(Selbst)Fürsorge für Geflüchtete und Helfende

Acht Ratschläge für Helfende im Umgang mit Geflüchteten - und sich selbst

Geflüchtete aus der Ukraine erfahren in der Schweiz eine Welle der Solidarität und Unterstützung: Ganz normale Menschen werden zu Alltagshelden und setzen dabei alle Hebel in Bewegung, um unterstützend tätig sein zu können. Auch wir möchten in diesem Artikel einen Beitrag leisten und konkrete, praxisnahe Ratschläge geben. Sowohl im (emotionalem) Umgang mit Geflüchteten, als auch für das eigene Wohl von Unterstützenden.

Papier-Girlande mit Menschen

Papiergirlande • Gemeinsam statt einsam • Foto von Andrew Moca

Seelische Unterstützung für Ukraine-Flüchtlinge

Was brauchen Ukrainer, die aus ihrem Heimatland flüchten mussten, neben Essen, einem Dach über dem Kopf und den Dingen des täglichen Bedarfs?
Im Gespräch zwischen dem basler Psychologen Stefan Schwarz und Aliona, einer jungen Ukrainerin und Psychologin, durften wir genau diese Frage nachgehen.
Einen weiteren Artikel über das Thema “Ukraine und Geflüchtete” mit Stefan Schwarz finden Sie ebenfalls in unserem Blog.

 

 

Alionas Geschichte: Eine starke Frau zwischen zwei Welten

Als Aliona vom Kriegsbeginn erfährt, verbringt sie gerade einen sorglosen Kurzurlaub mit ihrer Freundin in Wien. Nie hätte sie gedacht, dass aus der diffusen Situation der Bedrohung, über Nacht ein furchtbarer Krieg entstehen könnte: “sonst wäre ich im Leben nicht verreist! Schon gar nicht ohne meine Tochter!” So gelten Ihre ersten Gedanken und Sorgen ihrer zwolfjährigen Tochter, die für die Dauer ihrer Wien-Reise bei ihrem Vater und den Grosseltern wohnt - in der Ukraine.

Glücklicherweise geht es Alionas Tochter und Familie verhältnismässig gut, da sie während der Angriffe in Sicherheit sind. Die Vorstellung jedoch, mit seinem Kind zu telefonieren, während im Hintergrund die latente Geräuschkulisse des Kriegs hörbar ist, macht die extrem hohe emotionale Belastung der Betoffenen auch für “Aussenstehende” direkt greifbar.
Nach einer beschwerlichen mehrtägigen Reise von Österreich in die Ukraine, mitten hinein in den Krieg, beschliesst Aliona schnell ihre Flucht. Gemeinsam mit ihrer Tochter kommt sie schlussendlich bei einer Gastfamilie in Deutschland unter.
“Ich fühle Wärme und grosse Dankbarkeit, dass ich und meine Tochter hier so viel Unterstützung bekommen und wir in Sicherheit sein dürfen! Doch meine Sorgen sind auch ständig bei meiner restlichen Familie, die in der Ukraine zurückgeblieben ist. Emotional geht es mir, wie den meisten meiner Schicksalsgenossen, nicht gut.” berichtet Aliona, die als Psychologin ihre Worte sehr differenziert und reflektiert wählt. Sie sieht eine absolute Notwendigkeit, dass Betroffene aufgefangen werden: “nicht immer geht es um Trauma oder tiefe Krisen, doch uns alle eint ein mentales Ungleichgewicht.”

Es wird deutlich, wie dankbar Aliona für die Zuwendung ist, die sie in ihrer neuen, temporären Heimat, bekommt. Doch so groß die Erleichterung ist, endlich in Sicherheit zu sein, die Kontraste zum jüngst erlebten Leid und auch die Sorgen um die Zurückgebliebenen, führt unweigerlich zu einer psychischen Dysbalance. Aliona hatte Glück im Unglück und fühlt sich bei ihrer Gastfamilie wohl, in den nächsten Wochen möchte sie wieder anfangen zu arbeiten und bemüht sich um eine Beschäftigung als Psychologin oder Dolmetscherin im gesundheitlichen Bereich. Ihr grosser Wunsch für sich und andere Betroffene ist ein offenes Ohr und bei Bedarf ein erstes therapeutisches Auffangen. Ein Rettungsring bevor Geflüchtete von Sorgen und Ängste überflutet werden.


 

Unsere Tipps im Umgang mit Geflüchteten und deren Emotionen

Helfende werden im Rahmen ihrer humanitären Arbeit von der Frage bewegt, wie sie Betroffenen bestmöglich unterstützen können - insbesondere wenn es auch um das Zwischenmenschliche geht und nicht nur um das Notwendigste. Es prallen unterschiedliche Kulturen und Sprachen aufeinander, Ukraine-Geflüchtete haben eine extrem schwierige Zeit hinter - und vor - sich: Krisen sind hier leider vorprogrammiert. Daher möchten wir auf einige der möglichen Fragen im zwischenmenschlichen Umgang mit Geflüchteten eingehen. Wir legen dabei grossen Wert darauf, dass sich die Antworten und Tipps für “Laien”, also Personen ohne psychologische Ausbildung, eignen.

Haben eigentlich alle Geflüchteten psychische Probleme? Ich habe ehrlich gesagt grossen Respekt vor solch einer Herausforderung, beispielsweise wenn ich eine Ukrainer*in bei mir zuhause aufnehmen möchte.

Personen, die mit Krieg und Flucht konfrontiert wurden, haben mitunter schreckliche Erfahrungen machen müssen. Doch dies betrifft erstens nicht alle und muss zweitens nicht immer zu einem schwerwiegenden Trauma führen. Es kommt auch auf die persönliche Resilienz an, also die “persönlichen Abwehrkräfte” der Psyche. Da es sicherlich für aber für alle Geflüchteten eine emotional sehr anstrengende Zeit war und ist, sollten Sie sich darauf einstellen, dass Sie dies eventuell auch im gemeinsamen Alltag spüren werden. Das bedeutet nicht, dass eine Rückkehr zur Normalität für (leicht) Betroffene nicht möglich ist und immer eine Therapie notwendig wird.

Ich habe das Gefühl, dass es meinem Gegenüber (geflüchtete Ukrainer*in) scheinbar psychisch nicht gut geht. Was kann ich tun, um zu helfen? Sollte ich mögliche Traumata ansprechen?

Schön, dass Sie feine Antennen für die Emotionen Ihrer Mitmenschen haben. Dies ist schon ein wichtiger erster Schritt! Hören Sie zu, wenn Ihr Gegenüber Redebedarf hat. Bereiten Sie ihm im Gespräch einen Rahmen der Sicherheit und Vertrauen vermittelt. Es geht nicht unbedingt darum, eine Lösung für die Probleme Ihres Gegenübers zu haben, sondern in erster Linie auf das Schenken von Aufmerksamkeit, Zeit und Gehör. Vermeiden sollten Sie hingegen ein übereifriges Ansprechen oder gar Drängen, wenn Betroffene nicht von sich aus über Erlebtes sprechen wollen. Traumata sind ein extrem sensibles Gebiet der Psyche und gehören in therapeutische Betreuung. Bitte bohren Sie nicht in der Vergangenheit, sondern konzentrieren sich in Gesprächen und Ihrem Tun auf die Gegenwart.
Wenn Sie es sich zutrauen, können Sie auch ihre praktische Unterstützung beim Erfüllen der ungedeckten Bedürfnisse anbieten - wir gehen in der nächsten Antwort noch näher darauf ein.

Gibt es pauschale Tipps, was Betroffenen mit ziemlicher Sicherheit helfen könnte?

Ja, die gibt es tatsächlich! So führen beispielsweise Sport und Achtsamkeitsübungen zu einer psychischen Stabilisierung. Eine weitere wichtige Rolle spielen die persönlichen Ressourcen: Geflüchtete sind Menschen mit eigener Geschichte und Talenten. Werden diese im “neuen Leben” erkannt und gefördert, beispielsweise in der Arbeit, durch die Fortführung der Ausbildung oder Kreativität und Sport, dann führt dies unweigerlich zu einer Besserung des Wohlbefindens. Ein einfaches Beispiel wäre, den fussballbegeisterten 8-jährigen im örtlichen Verein anzumelden und ihn bei der Ausübung dieser neuen Aktivität zu unterstützen.

Was ist, wenn ich das Gefühl habe, dass es ohne Therapie nicht gehen wird?

Leider reichen unsere, vorher erwähnten, alltäglichen Hilfestellungen nicht immer aus. Wenn Sie mit der emotionalen Lage Ihres Gegenübers überfordert sind oder dieser Ihnen signalisiert, dass er sich in einer Krise befindet, wäre unser “Erste-Hilfe-Tipp” das Unterstützen bei der Anmeldung für eine (Kurzzeit)-Therapie. Geflüchtete haben in der Schweiz den “Schutzstatus S” und damit auch ohne Krankenversicherung den Zugang zur therapeutischen Versorgung durch eine Psychotherapeut*in.
Um es allen Beteiligten so schnell und einfach wie möglich zu machen, haben wir unsere Online-Anmeldung entsprechend angepasst.

 
 

Unsere Tipps zur Selbstfürsorge für Helfende

Wir möchten bewusst auch das Augenmerk auf die emotionale Gesundheit von Unterstützenden legen. Helfen ist eine grosse Verantwortung, die man nicht unterschätzen sollte.

  • Bitte achten Sie auf Ihre eigenen Grenzen und die Ihres nahen Umfelds!
    Dies gilt in erster Linie für die Entscheidung, wie und wieviel Sie Hilfe leisten können. Sie sollten die unterstützende Arbeit weder auf Kosten Ihrer eigenen (mentalen) Gesundheit, noch zu Lasten Ihres Umfelds, leisten.

  • Überfordern und überschätzen Sie sich nicht!
    Die Arbeit mit Geflüchteten ist mitunter sehr anspruchsvoll. Gönnen Sie sich Pausen, in denen Sie auch mal abschalten können. Im besten Falle wenden Sie alle guten Ratschläge zur Ressourcenaktivierung (Sport, Kreativität etc.) auch für Ihr eigenes Leben an. Wichtig ist, dass Sie sich nicht im sozialen Engagement verlieren.

  • Gemeinsam schafft man einfach mehr!
    Wenn Sie nicht mehr weiterwissen, ist es schön zu wissen, dass Sie nicht alleine sind. Mit einem Netzwerk, sei es noch so klein, können Sie eine enorme Unterstützung erfahren und gleichermassen mehr bewirken. Sei es eine Ihnen bekannte Arztpraxis, die Geflüchtete schnell und einfach aufnimmt oder der Verein, der sich mit mehreren Dolmetschern um alle bürokratischen Belange kümmert: Tauschen Sie sich aus, denn gemeinsam sind Sie stärker.

  • Lassen Sie sich auch helfen!
    Es ist wunderbar, dass Sie Hilfsbedürftige unterstützen. Doch, wie oben erwähnt, haben auch Sie Grenzen. Daher sollten Sie sich jederzeit Unterstützung holen, wenn Sie nicht weiterkommen. Dies gilt sowohl für die Belange derer denen Sie helfen, als auch für Sie selbst. Wir sehen beispielsweise einen absoluten Bedarf an therapeutischer Unterstützung für Geflüchtete - aber ebenso auch für Helfende. Daher haben wir beide Personengruppen in unserer priorisierten Online-Anmeldung vorgesehen. Auch Angebote wie Selbsthilfegruppen oder Supervisionen haben sich in vergleichbaren Situationen absolut bewährt.

Danke an alle Helfenden in der Ukraine-Krise!

 

Ein Artikel der beosana Redaktion © 2023 Beosana AG
Fotos: Andrew Moca auf Unsplash

 
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Der verpasste Termin: Ein Dauerbrenner in der Therapiepraxis

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